L E S E P R O B E. Szenen aus dem Altenheim.

von Detlef Rothe aus Hagen in Westfalen

Auszüge aus meinen Aufzeichnungen, welche zwar weitgehend aus dem Leben gegriffen sind, aber hier bereits zu einem Roman (namens "Altenheim") verdichtet werden. Die Darstellung beruht auf Erlebnissen; es werden aber keine real existierenden Orte und Personen beschrieben.



Die richtigen Tropfen (04.03.2004)
+++ gewidmet allen Apothekenkunden +++


Diese Frage - oder besser: Sorge - kennt wohl jeder Alten- und Krankenpfleger (oder sonstiger Careologe), nämlich die ängstliche Erkundigung des Patienten, ob ihm auch die richtigen Tabletten oder Tropfen gereicht würden. So wandte sich eines Abends bei dem ansonsten alltäglichen Austeilen der Medikamente - der sogenannten 'Medi-Gabe' - die nicht mehr so ganz rüstige Frau Wundliegel mit forschendglasigem Blick und zuckenden, schon recht leidend wirkenden Mundwinkeln an den Verfasser, um dessen Reaktion gewissenhaft zu prüfen: "Sind das auch wirklich die richtigen Tropfen?" - Von dieser Dame wußte ich noch nicht viel, nur war ich mir sicher, daß sie einem guten Tropfen nicht ganz abgeneigt war; ich gab mir also Mühe, keine falsche Antwort zu leisten. "Ach, liebe Frau Wundliegel", seufzte ich mitleidig, "wenn das die richtigen Tropfen wären, so hätten Sie doch sicherlich schon längst das Weite gesucht. Nein, meine liebe Patientin, wenn Sie das bekämen, wonach Sie verlangen, dann wären Sie gewiß schon längst gesund. Bedenken Sie: wahrscheinlich lebten Sie jetzt in Afrika und ließen sich lieber von einem netten Neger verwöhnen, anstatt in Lemuria von einem dieser Pfleger bedient zu werden. Nein - das, was ich Ihnen hier kredenze, sind wohl nicht die richtigen Tropfen, denn sie lindern bloß Ihr Leiden. Heilen tut dieses Wässerchen weder Sie noch mich. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie aber bitte Ihren Arzt oder Apotheker - sie kennen gewiß auch den Gewinn! Wenn Sie es wünschen, lese ich Ihnen aber gerne den Waschzettel aus der Packung vor, darin ist alles berücksichtigt. Na denn: nun sehr zum Wohle! Sie bleiben uns sicher noch erhalten." (Ich sollte nicht verschweigen, daß diese alte Dame danach wirklich sehr bedient wirkte.)


Steine, die vom Herzen fallen (29.06.2004)
+++ gewidmet allen Freunden und Helfern +++


Eine Woche nach dem Urlaub vermißte ich im Spätdienst eine Bewohnerin, welche an Alzheimer erkrankt war. Es war gegen 14:45 Uhr; die Mittagsruhe ging um diese Zeit über in ein gemeinsames Kaffeetrinken. Eine Mitarbeiterin hatte sich morgens krankgemeldet, und so stand mir nur eine kaum eingearbeitete Helferin zur Verfügung. Nichts deutete auf einen leidlich geruhsamen Nachmittag ohne Ärzte und Vorgesetzte hin!
Nachdem die immobilen Schützlinge aus dem Bett geholt waren, übernahm die Helferin den Nachmittagskaffee, während ich mich eilends auf die Suche nach der vermißten Bewohnerin machte - nennen wir sie hier schlicht 'Selma Süden'. Zunächst fragte ich in dem anderen Wohnbereich nach, ob Selma dort gesehen worden sei. Fehlanzeige, aber immerhin versprach man beim Suchen in den oberen Etagen zu helfen (dort wurde auch nur zu zweit gearbeitet). Das ganze Heim wurde vom Dachboden bis zum Keller abgekämmt, sämtliche Zimmer und Toilettenräume durchgesehen, selbst in Abstell- und Arbeitskammern gelugt. Nichts zu machen!
Es blieb noch der Innenhof, in denen ich von verschiedenen Etagen und Positionen aus bereits Einsicht genommen hatte, ohne daß sich dort - außer unserem grimmigen Hausmeister - etwas rührte. Es war zwar Sonntag, aber der Speisesaal mußte renoviert werden, und da gab es auch am Wochenende Einiges zu tun. Am Eingang zum Innenhof, welcher offen war, vergewisserte ich mich zunächst davon, daß die Einfahrt verriegelt war. Sie war es. Dann wandte ich mich an den Meister der Hauses, doch auf meine Frage nach Frau Süden, machte er bloß eine wegwerfende Handbewegung und begann über die gestapelten Müllsäcke im Schmutzwäscheraum zu schimpfen. Aber Hallo! Das ging mich nun wirklich nichts an - da hatte ich wirklich andere Sorgen! Sollte ich mich jetzt etwa auf die Suche nach der oder den oder dem Schuldigen machen? Manche Hausmeister sind wahre Meister ihres Faches. Innenhof? Nein, sonst niemand zu sehen!
Nächster Schritt: Ich informiere meine Helferin, hole Bekleidungsinfos bei den Frühdienstleuten ein und setzte mich in meinen Corsa, um einige Runden zu drehen, wie ich es schon im letzten und vor allem vorletzten Sommer machen mußte, als Selma noch mobiler war. Die Straßen sind leer; ich schaue abwechselnd nach links und rechts und an den Einmündungen in die Seitenstraßen. Kein Drängler hinter mir, aber auch keine Frau Süden zu sehen. Laut Tacho drei Kilometer abgeklappert.
Also die Angehörigen angerufen; wieder nichts, außer aufkeimenden Gedanken, Sorgen und unausgesprochenen Vorwürfen. Man versprach, zu helfen. Der Heimleiter muß informiert werden. Er sei schon auf dem Weg nach Barmen; vor weiteren Schritten warte ich seine Ankunft ab. Es ist 16 Uhr. Zum Erbarmen! Wo mag Frau Süden bloß sein? Erste Verdachtsmomente keimen auf: wollte die eine Tochter Selma nicht nach Hause holen? Ist sie mit ihr nicht mehrfach ohne Info ans Personal spazierengegangen? Die Tochter konnte ich weder über Festnetz noch per Mobile (dieses dusselige deutsche Wort 'Handy'...) ereichen! Aber nein, das war früher - mittlerweile ist Frau Süden ohne Frage heimbedürftig. Das ist unmittelbar einsichtig; die Tochter ausgesprochen hilfsbereit.
Der Heimleiter kommt. Kurze Krisensitzung um 16:15 Uhr, bevor der Speisesaal in den Mittelpunkt seines Wirkens rückt. Polizei anrufen, natürlich. Bin schon dabei.
Es meldet sich ein Herr H. Ich sei zur Zentrale durchgeschaltet worden. Guten Tag, ich bin soundso und möchte eine Vermißtenmeldung machen. Ob ich nicht zur Wache kommen könne. Nein, das geht nicht; ich bin hier unabkömmlich. Ich gebe eine Personenbeschreibung durch, erwähne auch, daß ich ein DIN-A5-Foto hierhabe. Man kümmere sich.
Es ist 16:30 Uhr. Nun muß ich mich aber um den großen Rest der Bewohnerschaft kümmern, immerhin an die fünfundzwanzig Leute! Abendessen wegen Speisesaal-Schließung auf den Zimmern! Das kann ja heiter werden... Man verspricht Hilfe aus der Küche. Wir werden sehen. Eilends Zimmer vorbereitet, Getränke gereicht, Bettlägerige gelagert, Vitalwerte geprüft, Tropfen gestellt, Sondennahrung angehängt, Medikamente verteilt, Spritzen verabreicht - dann kommt auch schon der Essenswagen. Tablett-System? Auch hier: Fehlanzeige. Die gute Fee aus der Küche hilft beim Abräumen. Es ist 18:30 Uhr. Meine Leute wollen - wenigstens die Mehrzahl - müde zu Bett. Es ist ein warmer Tag - teils heiter teils wolkig.
20:00 Uhr. Letzter Rundgang. Alle im Bett außer Frau Süden. Ihre Tochter meldet sich jetzt. Polizei? Nichts gehört und nichts gesehen, weder bei ihr noch bei uns. Ich rufe wieder Herrn H. von der Polizeiwache an. Nein, man habe noch nichts unternommen. Ein Foto faxen? Nein, er könne nicht gewährleisten, daß es an der richtigen Dienststelle ankäme. Man könne immer noch nicht kommen? Gut, er sende jemanden zu uns. Ich schaue unruhig auf die Uhr: es ist jetzt 20:20 Uhr. Wo mag - verflixt und zugenäht - bloß Frau Süden sein? Bald wird es dunkel!
Es ist 21:15 Uhr. Ich habe meine Dokumentation und Dienstübergabe an die Nachtwache beendet und will gerade gehen, da kommt eine junge Beamtin nebst männlicher Begleitung herein. Endlich! Er geht mit mir ins Dienstzimmer - sie macht sich an die Haus- und Hofdurchsuchung. Es sei seine erste Vermißtenanzeige, sagt der junge Beamte etwas verlegen. Er ist mir sehr sympathisch. Nach einer Viertelstunde ist der Schreibkram gerade erledigt, da kommt die Polizistin wieder herein - mit einer freundlich radebrechenden Frau Süden am Arm. Sie habe die Dame mit Steinchen spielend im Innenhof angetroffen. Wo, will ich wissen. Sie zeigt es mir. Es ist ausgerechnet die hinterste, kalte Ecke rechts neben dem Treppenhaus, welche eigentlich nur von dort aus oder vor Ort richtig einzusehen ist. Über Stunden hat Selma dort gedankenverloren und weltvergessen gehockt und hingabevoll mit kleinen Steinen gespielt - keine fünfzig Meter von mir entfernt -, während sich über mir die Wolken auftürmten.
Ich musterte Frau Süden. Sie war glücklich und vor allem zufrieden, wieder einmal im Mittelpunkt zu stehen. Na, wenigstens stimmte die Personenbeschreibung punktgenau...



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20090927 12:41