Bei einer Fahrt an die Ostsee konnte der Verfasser am 28. Oktober 1990 kurzfristig das Zentrum der ehemaligen reichen Hansestadt Wismar besichtigen. Freude und Bedrückung über den Zustand dieser an Backsteingotik reichen, aber lange vernachlässigten Kreisstadt in dem zur Geschichte gewordenen Bezirk Rostock wechselten einander wie Sonnenschein und Regenschauer ab, als der Verfasser mit seinem Bruder sonntagvormittags durch die ziemlich leeren Straßen ging. Vereintes Hoffen und Bangen hat der Verfasser nie so deutlich gespürt wie hier. Nie waren ihm auf den alten Häusern im Osten Deutschlands die modernen Antennen derart aufgefallen, welche - Wetterfahnen gleich - vermittelten, woher der Wind weht und wohin sich das Sehnen und Streben der Einheimischen richtet.
Man kann einerseits von Glück reden, daß die ehrwürdige Altstadt noch kaum vom Tourismus erfaßt ist, denn nur ab und zu brummte ein Reisebus durch diesen von Reklame und Abfall weitgehend verschont gebliebenen Ort, welcher - um anderseits weniger Erfreuliches zu melden - auch etwas wie Armut und Wehmut vermittelte. Sicherlich wird er bald wieder aufblühen. Von den lebhaften Tagen der Hansezeit schien Wismar trotz seiner geradezu auffälligen Ruhe ja weit weniger entfernt zu sein als das im Touristenrummel und Verkehrsgewühl geradezu erstickende Lübeck, welches man gewissermaßen als das zu Wismar westlich gelegene Gegenstück zur hanseatischen Backsteingotik ansehen kann. Der »Westen« war in Wismar übrigens insofern schon da, als auf der Hinfahrt ein »BALD«-Zeitungsplakat (man möge mir das Wortspiel verzeihen) nach dem anderen dem Reisenden wegelagernd ins Auge sprang, während die Innen- bzw. Altstadt selbst von solchen Anbiederungsversuchen erst allmählich in Mitleidenschaft gezogen wird.
Wismar befindet sich in einer Übergangsphase und vermittelt so einen recht sonderbaren Eindruck. Einerseits ist sein Zentrum noch nahezu frei von westlichen Kommerzeinflüssen, anderseits haben sich in einigen der verwitternden Bauten bereits Banken breit gemacht, welche gewöhnlich Geld anziehen, und es bleibt zu hoffen, daß es beiden nützt. An einer Konditorei prunkte ziemlich auffällig eine bekannte Kaffee-Leuchtreklame über der Ladentür, so daß man getrost an dem guten Geschmack der Inhaber zweifeln darf - von dem des Gebräus einmal abgesehen. In dieser von Baudenkmälern geprägten, weitgehend werbungsfreien Zone wirken solche Häßlichkeiten besonders kraß. Bewahren und Erneuern sind freilich Gegensätze, welche sich oft nur schwer in Einklang bringen lassen.
Sehr viele alte Bauten haben das »Dritte Reich« und den realexperimentierenden
Sozialismus mehr leidlich als lieblich überstanden, sofern sie überhaupt erhalten blieben. Die Kirche St. Georgen besteht beispielsweise seit dem Volltreffer durch eine
englische Luftmine im April 1945 nur noch als Ruine. Der reich verzierte Giebel des
nördlichen Querhauses war nicht lange vor der Besichtigung eingestürzt. Bauzäune
versperrten den Zutritt. Die benachbarte Marienkirche - als weiteres vorbildliches
Beispiel der von Bürgerstolz getragenen Backsteingotik -, welche den Zweiten Weltkrieg
etwas besser überstanden hatte, wurde 1960 im Zuge der Realisierung des Sozialismus
auf Veranlassung der Stadtverwaltung in die Luft gesprengt. Nur ihr Turm blieb stehen:
Die Geschlossenheit des verbliebenen alten Stadtbildes ist noch beachtlich. Der
Verfasser kann sich nicht daran erinnern, in einer real existierenden Stadt jemals einer
derart filmreifen »Kulisse« begegnet zu sein. Man kann nicht durch jene Straßen der
Altstadt gehen, ohne einen gewissen Schauer angesichts des »Willens« der Geschichte
zu verspüren, angesichts der Hochleistungen der Menschen in der handelsfrohen
Hansewelt - einschließlich der aufkeimenden Neuzeit - ebenso wie der Fehlleistungen
der nachfolgenden Generationen. Wie groß war aber die Überraschung des Berichterstatters, als mitten in der Altstadt plötzlich ein prächtiges Haus der italienischen Renaissance aus der mittelalterlich geprägten Kulisse hervortrat!
Einzelheiten des wismarer Baus zu schildern, der heute - mehr oder weniger verkommen - als Gerichtsgebäude des Kreises Wismar dient, möchte der Verfasser
mangels kunsthistorischer Kenntnisse unterlassen. Obwohl es sich im Vergleich zu
Schloß Horst um ein nur wenige Jahre älteres Werk handelt, steht es insgesamt wohl in
der Tradition einer anderen Zeit.
Da Bildzeugen bekanntlich mehr besagen als Buchstaben, seien hier einige Fotos des Wismarer Renaissancebaus beigefügt. Es ist nicht ganz klar, was auf den Fotos original ist, denn das Gebäude wurde bereits 1878 stark ausgebessert; originell ist es in jedem Fall.
Hingewiesen sei auf die Tonmedaillons männlicher und weiblicher Herrscher in einem Terracottafries an der Fassade im Innenhof des Wismarer Prachtbaus. Diese sind für uns wichtig, weil sie etwa derselben Zeit angehören (nämlich 1553/1554) wie die Exemplare von Schloß Horst und weil sich hier Anhaltspunkte für die ehemalige Anbringung der horster Stücke ergeben. Die wismarer Beispiele zeigen nicht nur Porträts antiker römischer Kaiser, sondern auch solche deutscher römischer Größen, von denen wir im Schloß Horst offenbar noch keinen entsprechenden Nachweis haben. Ähnliche Medaillons gibt es übrigens als Miniaturausgabe in Form von Reliefauflagen auf rheinischen Steinzeugkrügen des 16. Jahrhunderts, so daß wir über das Aussehen dieser Kunstwerke in der Renaissance recht gut unterrichtet sind. In Schloß Neuburg am Inn gab es übrigens abweichende Herrscherporträts auf farbig glasierten Ofenkacheln, wobei die Personen mit Oberkörper - von vorne gesehen - und durch Säulchen getrennt als Fries zur Darstellung kamen. Ob die Anordnung als Fries in Neuburg und Wismar ebenfalls als Zeichen einer älteren Entwicklung zu werten sind, mag hier dahingestellt bleiben.
Der Verfasser möchte an dieser Stelle seinem Bruder Klaus Rothe (Hagen in Westfalen) herzlich für die Gelegenheit zur Besichtigung von Wismar und für die Überlassung der [sechs] Bildvorlagen danken.
An der Erhaltung der Baudenkmäler in Wismar Interessierte seien auch an dieser Stelle zu freigebigen Spenden aufgerufen und verwiesen an:
1. Bürgerinitiative Altstadt Wismar (BAW), Postfach 46, O-2400 Wismar, - Deutsche Bank - Kreditbank AG, BLZ 130 700 00, Kto.-Nr. 27 122 97.
2. Förderkreis St. Georgen zu Wismar, Deutsche Bank Lübeck,
- BLZ 230 700 70, Kto.-Nr. 85 568 29.
Literaturhinweis zu Wismar:
Rainer Zunder (Text) u. Olaf Heil (Fotos), Rote Ziegel, hohe Giebel - nicht nur Gott zur Ehre, in: WR. WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU. RUNDSCHAU WOCHENEND. Samstag, 30. März 1991, S. 1 u. 3.
Nachtrag vom 11. September 2010: Die teils über 700 Jahre alten Giebelhäuser der Altstadt von Wismar gehören seit dem Jahr 2002 zum Weltkulturerbe der UNESCO.