REISEN: Unterwegs in Deutschland

Auch ein Beitrag zur Neuvereinigung Deutschlands: Besichtigung von Wismar im Oktober 1990

von Detlef Rothe aus Hagen in Westfalen (Author: Detlef Rothe)


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St.-Georgen- und Marienkirche zu Wismar um 1905 (Postkartenmotiv)

Bei einer Fahrt an die Ostsee konnte der Verfasser am 28. Oktober 1990 kurzfristig das Zentrum der ehemaligen reichen Hansestadt Wismar besichtigen. Freude und Bedrückung über den Zustand dieser an Backsteingotik reichen, aber lange vernachlässigten Kreisstadt in dem zur Geschichte gewordenen Bezirk Rostock wechselten einander wie Sonnenschein und Regenschauer ab, als der Verfasser mit seinem Bruder sonntagvormittags durch die ziemlich leeren Straßen ging. Vereintes Hoffen und Bangen hat der Verfasser nie so deutlich gespürt wie hier. Nie waren ihm auf den alten Häusern im Osten Deutschlands die modernen Antennen derart aufgefallen, welche - Wetterfahnen gleich - vermittelten, woher der Wind weht und wohin sich das Sehnen und Streben der Einheimischen richtet.

Man kann einerseits von Glück reden, daß die ehrwürdige Altstadt noch kaum vom Tourismus erfaßt ist, denn nur ab und zu brummte ein Reisebus durch diesen von Reklame und Abfall weitgehend verschont gebliebenen Ort, welcher - um anderseits weniger Erfreuliches zu melden - auch etwas wie Armut und Wehmut vermittelte. Sicherlich wird er bald wieder aufblühen. Von den lebhaften Tagen der Hansezeit schien Wismar trotz seiner geradezu auffälligen Ruhe ja weit weniger entfernt zu sein als das im Touristenrummel und Verkehrsgewühl geradezu erstickende Lübeck, welches man gewissermaßen als das zu Wismar westlich gelegene Gegenstück zur hanseatischen Backsteingotik ansehen kann. Der »Westen« war in Wismar übrigens insofern schon da, als auf der Hinfahrt ein »BALD«-Zeitungsplakat (man möge mir das Wortspiel verzeihen) nach dem anderen dem Reisenden wegelagernd ins Auge sprang, während die Innen- bzw. Altstadt selbst von solchen Anbiederungsversuchen erst allmählich in Mitleidenschaft gezogen wird.

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Die Krämerstraße auf einer Ansichtskarte aus dem Jahr 1983 ]

Wismar befindet sich in einer Übergangsphase und vermittelt so einen recht sonderbaren Eindruck. Einerseits ist sein Zentrum noch nahezu frei von westlichen Kommerzeinflüssen, anderseits haben sich in einigen der verwitternden Bauten bereits Banken breit gemacht, welche gewöhnlich Geld anziehen, und es bleibt zu hoffen, daß es beiden nützt. An einer Konditorei prunkte ziemlich auffällig eine bekannte Kaffee-Leuchtreklame über der Ladentür, so daß man getrost an dem guten Geschmack der Inhaber zweifeln darf - von dem des Gebräus einmal abgesehen. In dieser von Baudenkmälern geprägten, weitgehend werbungsfreien Zone wirken solche Häßlichkeiten besonders kraß. Bewahren und Erneuern sind freilich Gegensätze, welche sich oft nur schwer in Einklang bringen lassen.

Sehr viele alte Bauten haben das »Dritte Reich« und den realexperimentierenden Sozialismus mehr leidlich als lieblich überstanden, sofern sie überhaupt erhalten blieben. Die Kirche St. Georgen besteht beispielsweise seit dem Volltreffer durch eine englische Luftmine im April 1945 nur noch als Ruine. Der reich verzierte Giebel des nördlichen Querhauses war nicht lange vor der Besichtigung eingestürzt. Bauzäune versperrten den Zutritt. Die benachbarte Marienkirche - als weiteres vorbildliches Beispiel der von Bürgerstolz getragenen Backsteingotik -, welche den Zweiten Weltkrieg etwas besser überstanden hatte, wurde 1960 im Zuge der Realisierung des Sozialismus auf Veranlassung der Stadtverwaltung in die Luft gesprengt. Nur ihr Turm blieb stehen:


Kurzvideo bei Youtube von User SMHHWI


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Detail der Innenhof-Fassade und Turm der Marienkirche. (Foto: K. Rothe)

Das heute noch Erhaltene bedarf ebenfalls vielfach einer baldigen Erneuerung, wenn auch wohl mehr im Sinne einer vorsichtigen Restaurierung. Ein Initiativkreis interessierter Bürger wies in einem Schaufenster bereits auf deutliche Mängel anläßlich übereilter Wiederherstellungen hin und zeigte zugleich, wie man's besser macht. Hoffentlich bringt eine behutsame Öffnung der Stadt für den Tourismus dieser ausreichend Einnahmen, um das Wesentliche denkmalgerecht zu erhalten.

Die Geschlossenheit des verbliebenen alten Stadtbildes ist noch beachtlich. Der Verfasser kann sich nicht daran erinnern, in einer real existierenden Stadt jemals einer derart filmreifen »Kulisse« begegnet zu sein. Man kann nicht durch jene Straßen der Altstadt gehen, ohne einen gewissen Schauer angesichts des »Willens« der Geschichte zu verspüren, angesichts der Hochleistungen der Menschen in der handelsfrohen Hansewelt - einschließlich der aufkeimenden Neuzeit - ebenso wie der Fehlleistungen der nachfolgenden Generationen. Wie groß war aber die Überraschung des Berichterstatters, als mitten in der Altstadt plötzlich ein prächtiges Haus der italienischen Renaissance aus der mittelalterlich geprägten Kulisse hervortrat!

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Hauptportal des Fürstenhofes an der Straße. (Foto: K. Rothe)

Wuchtig und schwarz vor Ärger oder Alter stand es da, leicht verborgen hinter geduckten Bauten und den Resten der Georgenkirche, die ihm einst die Schau gestohlen haben mochte. Das Bauwerk, der sogenannte »Fürstenhof«, war etwa zeitgleich mit dem Schloß Horst in Gelsenkirchen entstanden; als Bauzeit werden die Jahre 1553 bis 1554 angegeben, und als Baumeister wird Erhard Altdorfer genannt.

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Detail des Hauptportals im Innenhof mit Jahreszahl 1554. (Foto: K. Rothe)

Ein herrlicher Bau weit im Norden an der Ostsee errichtet, und dazu noch aus so früher Zeit! Wismar muß am Übergang zur Neuzeit wahrhaftig ein bedeutendes Zentrum gewesen sein.

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Innenhof-Fassade des Fürstenhofes zu Wismar mit Portal aus Sandstein von 1554. (Foto: K. Rothe)

Einzelheiten des wismarer Baus zu schildern, der heute - mehr oder weniger verkommen - als Gerichtsgebäude des Kreises Wismar dient, möchte der Verfasser mangels kunsthistorischer Kenntnisse unterlassen. Obwohl es sich im Vergleich zu Schloß Horst um ein nur wenige Jahre älteres Werk handelt, steht es insgesamt wohl in der Tradition einer anderen Zeit.

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Rippengewölbe im Durchgang. (Foto: K. Rothe)

Terracottaflächen und an die Gotik erinnernde Gewölberippen riefen beim Verfasser hierbei nahezu vergessene Eindrücke von seinen Ausgrabungen in Altbayern in den Jahren 1982 und 1983 wach, bei denen er unter anderem Resten von Einbauten der Frührenaissance der Jahre um 1530 im Schloß Neuburg am Inn (Landkreis Passau) nachspüren durfte. Dort, unmittelbar an der Grenze zu Österreich, gehörten kunstvoll geschwungene Gewölberippen und Türportale aus reichlich reliefdekorierter Terracotta zu den wesentlichsten Erscheinungen eines recht unmittelbaren italienischen Baustils, in denen Beiträge aus Bayern für ein wenig Abwechslung sorgten. Steht das Wismarer Adelshaus demnach offenbar in der Tradition einer frühen, italienisch geprägten Phase der Renaissance, so zeigt sich dadurch die maßgebliche Bedeutung der Gelsenkirchener Anlage für die Baukunst im Norden Deutschlands einmal mehr.

Da Bildzeugen bekanntlich mehr besagen als Buchstaben, seien hier einige Fotos des Wismarer Renaissancebaus beigefügt. Es ist nicht ganz klar, was auf den Fotos original ist, denn das Gebäude wurde bereits 1878 stark ausgebessert; originell ist es in jedem Fall.

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Terrakottafries mit Porträts an der Innenhof-Fassade des Fürstenhofes. (Foto: K. Rothe)

Hingewiesen sei auf die Tonmedaillons männlicher und weiblicher Herrscher in einem Terracottafries an der Fassade im Innenhof des Wismarer Prachtbaus. Diese sind für uns wichtig, weil sie etwa derselben Zeit angehören (nämlich 1553/1554) wie die Exemplare von Schloß Horst und weil sich hier Anhaltspunkte für die ehemalige Anbringung der horster Stücke ergeben. Die wismarer Beispiele zeigen nicht nur Porträts antiker römischer Kaiser, sondern auch solche deutscher römischer Größen, von denen wir im Schloß Horst offenbar noch keinen entsprechenden Nachweis haben. Ähnliche Medaillons gibt es übrigens als Miniaturausgabe in Form von Reliefauflagen auf rheinischen Steinzeugkrügen des 16. Jahrhunderts, so daß wir über das Aussehen dieser Kunstwerke in der Renaissance recht gut unterrichtet sind. In Schloß Neuburg am Inn gab es übrigens abweichende Herrscherporträts auf farbig glasierten Ofenkacheln, wobei die Personen mit Oberkörper - von vorne gesehen - und durch Säulchen getrennt als Fries zur Darstellung kamen. Ob die Anordnung als Fries in Neuburg und Wismar ebenfalls als Zeichen einer älteren Entwicklung zu werten sind, mag hier dahingestellt bleiben.



Der Verfasser möchte an dieser Stelle seinem Bruder Klaus Rothe (Hagen in Westfalen) herzlich für die Gelegenheit zur Besichtigung von Wismar und für die Überlassung der [sechs] Bildvorlagen danken.



An der Erhaltung der Baudenkmäler in Wismar Interessierte seien auch an dieser Stelle zu freigebigen Spenden aufgerufen und verwiesen an:

1. Bürgerinitiative Altstadt Wismar (BAW), Postfach 46, O-2400 Wismar, - Deutsche Bank - Kreditbank AG, BLZ 130 700 00, Kto.-Nr. 27 122 97.

2. Förderkreis St. Georgen zu Wismar, Deutsche Bank Lübeck,

- BLZ 230 700 70, Kto.-Nr. 85 568 29.




Literaturhinweis zu Wismar:

Rainer Zunder (Text) u. Olaf Heil (Fotos), Rote Ziegel, hohe Giebel - nicht nur Gott zur Ehre, in: WR. WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU. RUNDSCHAU WOCHENEND. Samstag, 30. März 1991, S. 1 u. 3.


Nachtrag vom 11. September 2010: Die teils über 700 Jahre alten Giebelhäuser der Altstadt von Wismar gehören seit dem Jahr 2002 zum Weltkulturerbe der UNESCO.




LINKS

offizielle Website der Hansestadt Wismar 2012
(10 Jahre UNESCO-Weltkulturerbe - meinen herzlichen Glückwunsch!)

YouTube-Video ,Wismar Stadt Bilder 29.April 1990' von User henryhvideofan:



YouTube-Video ,Wismar 1990, noch DDR' von User manno16:


Von YouTube-User BernieOnAir gibt es einen interessanten Film zu Wismar, hochgeladen im Oktober 2012:


YouTube-Video ,Wismar - UNESCO Welterbe Stadt an der Ostsee' von aufnachmv:



Hinweis: Für die Aktualität, Funktionalität und Korrektheit der angegebenen Links erfolgt keine Gewähr!



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Original: 06.04.1991 - Online-Fassung: 20140427 19:49