„Erst in der Stadt, dann in Vorstädten,
wurd' flott geschafft, und an Moneten
war Mangel nie. Sie reichten aus,
daß man zuweilen einen Schmaus
„Backhähnel, Gänsel, Tyroler Strudel,
Spanferkel und der Suppen Nudel"
sich konnt' erlauben ohne Pump.
Was sonst noch zu dem Wiener Leben
gehört hat, denkt man sich daneben:
hauptsächlich die Gemütlichkeit!
Das liebe Wien! Ich kann nicht fassen
den Eindruck, den es hinterlassen
für frühere und selbst späte Zeit."
Autobiographie von Ernst Bloßfeldt (*1812 - †1895), preußischer Kupferschmied aus Roßla (Kr. Sangerhausen, Sachsen-Anhalt)
Hier finden Sie - in leicht gekürzter Fassung - den Beginn meines ersten Tagebuches (A), und zwar mit einem Text vom 2. November 1974, welcher also im Alter von fünfzehn Jahren geschrieben wurde!
Diese beiden - hier zusammengefügten - Fotos wurden zufällig bei diesem Anlaß von meinem älteren Bruder Klaus aufgenommen und zeigen vor mir oben den Fotodokumentationsordner, darunter links das Tagebuch und rechts den Polyglott-Reiseführer. Mein Kommentar vom 3. Januar 1975 lautete dazu unter anderem:
Die beiden Fotos sind vom 3.[= 2.?]11.1974, als ich gerade die 5. Seite des Tagebuches verfasste: Klaus überraschte mich, als ich mir die richtige Wahl der Wörter überlegte, womit ich oft Schwierigkeiten habe. [gestrichen: „Die Bilder sind unterbelichtet, da es schon ziemlich dunkel war. Der müde Gesichtsausdruck [...] war nicht beabsichtigt, er ist nur ein Zeichen dafür, wie schwierig für mich das Verfassen des Tagebuches ist. Ander[er]seits ist mein Gesicht durch die Erinnerungen an die Klassenfahrt nach Wien gezeichnet."]
Am Anfang des Tagebuchtextes (Seite 1) steht eine Begründung für die Aufnahme der Aufzeichnungen, dann folgen (hauptsächlich auf den Seiten 1 bis 10) Erlebnisse anläßlich der Fahrt der Klasse U II (= Untersekunda, das heißt: Klassenstufe 10) b des Fichte-Gymnasiums von Hagen in Westfalen nach Wien in Österreich. Ortsnamen und Datumsangaben wurden im Original nicht hervorgehoben; Absätze wurden teilweise zwecks besserer Lesbarkeit bzw. Übersicht hinzugefügt. Das Tagebuch wird durch Fotos des Verfassers ergänzt (Paßfoto und Film Nr. I); es handelt sich um die erste entwickelte Foto-Serie des Verfassers.]
Hagen, den 2.11.1974
Warum ich ein Tagebuch führen will
Eigentlich wollte ich schon immer ein Tagebuch führen, aber es gab zu wenig Ereignisse. Erst während meiner Reise nach Wien, vom 7 bis 13. Oktober, habe ich mich dazu entschlossen: Erstens, weil es über Wien viel zu bemerken gibt, ([denn] der Kontrast zwischen alt und neu ist zum Beispiel sehr groß; zweitens, weil ein Klassenkamerad, der mit mir in einem Zimmer wohnte, schon Tagebuch führte und alles Interessante eintrug. Das Tagebuch-führen [sic!] erleichtert mir [gestrichen: „auch"] das Briefeschreiben, das ich für sehr mühsam halte, da ich nie richtig weiß, ob das, was ich schreibe, dem [= den] Leser interessiert[,] und da man oft nicht schreiben kann, was man meint, z. B. weil Gefühle schwer auszudrücken sind oder weil der Leser des Briefes über die Meinung des Schreibers böse sein wird und die Korrespondenz kurzerhand abbricht. Im Tagebuch aber kann ich meine Gedanken einfach hinschreiben, ohne darauf zu achten, wie ein Leser, der dies[es] Buch in die Hand bekommt, darüber denken wird, da ich meine, daß dies erst geschieht, wenn ich nicht mehr erreichbar bin. Ein anderer Grund dafür, daß ich mir diese Arbeit mache, ist, daß ich das, was ich im Tagebuch verspreche, in der Praxis auch ausführen muß, da ich kein Angeber bin und nicht lügen will.
Ich [be]schreibe nun als erstes meine Eindrücke von der Reise nach Wien (s. o.):
Am Montag, den 7. Oktober 1974, stand ich um 5.30 Uhr auf, so daß ich um 6.25 Uhr im Hagener Hbf [= Hauptbahnhof im Bahnhofviertel] mit der UIIb und den Lehrern Gerber und Tröster mit dem D[-Zug] 711 abfahren konnte, nachdem mich mein Vater mit dem Auto zum Bahnhof gebracht hatte. Gegen 9.24 Uhr kamen wir [= die Klasse U II b (mit zwei Lehrern)] in Frankfurt [am Main] an, wo wir nach einer knappen Stunde [Aufenthalt] um 10.21 Uhr mit dem D 221 nach Wien-Westbahnhof fuhren, bis wir um 19.20 ankamen und zum Jugendgästehaus in Hütteldorf (mit einem Reisebus) gebracht wurden. Dort aßen wir erst einmal zu Abend und gingen in unsere Zimmer. (Ich hatte mit Michael [..], Friedrich [..], Ralf [..] und Jürgen [..] Zimmer Nr. H 6.) Dort merkten wir, daß wir keine Vorhängeschlösser für die Spinde hatten, in die wir den Inhalt der Koffer packten. Um wenigstens die Wertsachen vor [..] Raub zu bewahren, ließen wir sie (zumindest ich, da doch einige [Mitschüler] Vorhängeschlösser mit hatten) in die [= dem] abgeschlossenen Koffer und lebten den ganzen Wien-Aufenthalt hindurch in Angst vor einem Diebstahl.
[Paßfoto aufgenommen bei einer Erkundung im Bahnhof Hütteldorf - Detlef Rothe, 7. Oktober 1974, ca. 22:30 Uhr.
Zum Jeans-Anzug vergleiche man das Exemplar meines Bruders Klaus auf einem Foto vom 30. September 1974:
Am nächsten Morgen, am Dienstag, den 8. Oktober, gab es wie an den folgenden Tagen um 8 Uhr Frühstück, das aus leckerem Kamillentee, irgendeinen [= irgendeinem] „Kaffee", Gummibrötchen, Butter und einem nicht zu definierenden, aber an für sich nicht üblen Gelee bestand. Um 9 Uhr startete eine große Stadtrundfahrt in einem komfortablen Reisebus, der uns über den regnerischen Tag hinwegtröstete. Nach dem täglich um 13 Uhr stattfindenden Mittagessen ([an diesem Tag] im Jugendgästehaus) machte die Klasse in kleineren Gruppen einen Stadtbummel. Ich war beeindruckt über den [= von dem] U-Bahnbau vor dem Stephansdom und der Karlskirche, die ich auch fleißig bestaunte und zu knipsen versuchte. Ich fuhr wie an den folgenden Tagen [gestrichen: „(meistens)"] mit der Stadtbahn, einer alten Straßenbahn-artigen Eisenbahn (um die Jahrhundertwende erbaut), von dem an verbrecherischen [= verbrecherische] Filmszenen erinnernden alten Bahnhof Hütteldorf.
[Rückblende:
Film aus dem Jahr 1979 über die Stadtbahn bei Facebook (Iframe im abgesicherten Modus eventuell unsichtbar)]
Nach einem ausgiebigen Nachmittagsspaziergang im Stadtkern kehrte ich zum Abendessen [(]um 18 Uhr im Jugendgästehaus[)] zurück.
Am nächsten Tag [9. Oktober] startete ich mit meiner Klasse nach dem Ihnen bereits bekannten Frühstück (das sich täglich um die gleiche Zeit wiederholte!) einen Besuch von Schloß Schönbrunn.
[Rückblenden:
Schloß Schönbrunn im August 1962 (Dahlhaus-Sammlung)]
Wir gingen durch die schönen Räume in der I. Etage und durch die Wagenburg, wobei ich wieder wie am Nachmittag des vorigen Tages fleißig photographierte. Kurz vor dem Mittagessen im Tirolergarten (im Tierpark Schönbrunn) wurde mein Farbfilm voll[,] und ich öffnete die Kamera, um ihn herauszunehmen - wobei ich ihn (wahrscheinlich aus mangelnder Fachkenntnis [das Zurückspulen mißlang wohl auf Grund unzureichendem Drucks auf einen bestimmten Knopf]) belichtete und mich [auch noch] wunderte, daß der ganze Film so schön weiß war. Ich habe natürlich aus diesem Mißgeschick gelernt und fuhr [schon] gleich nach dem Mittagessen zurück zum Jugendgästehaus, um mir einen neuen Film zu holen, den ich am Tage zuvor „in der Stadt" gekauft hatte [und um die Kamera gleich im
Zimmer
zu testen]. Ich verabredete mich mit meinem Freund (Michael [..]) im Heeresmuseum, wo ich, nachdem sich mein [neuer] Film mit Bildern von der
Karlskirche,
[Rückblenden:
Foto am Karlsplatz mit Karlskirche im Hintergrund vom Winter 1964 (Dahlhaus-Sammlung)
Postkarte mit colorierter Ansicht vom Karlsplatz - gebraucht anno 1918]
der Staatsoper,
[Rückblende:
Ansichtskarte um 1900]
dem [Schloß] Belvedere
u. dgl. etwas gefüllt hatte, [mich] pünktlich einige Minuten vor Ende der Besuchszeit zu spät einfand und nur ein paar Blicke auf 'zig Kanonen werfen konnte und [dann sogleich] den weiten Rückweg in das Stadtinnere antreten mußte [ersetzt für „konnte"]. Indes[sen] freute ich mich aber, so viel Interessantes zu sehen zu bekommen. Ich besuchte [gestrichen: „und photographierte"] den Stephansdom, photographierte
die [Glocke] Pummerin [im Nordturm des Stephansdomes] und die schöne Aussicht von dort (Prater, UNO-City, Votivkirche, Dominikanerkirche, Wienerwald und vieles mehr
[WNW-Panorama
- und ONO-Panorama
vom Nordturm des Domes aus]). Dann machte ich vom Stephansplatz aus einen Rundgang in Richtung
Anker- bzw. Kunstuhr [- die "Spieluhr" am Hohen Markt wurde gestiftet von der Anker-Versicherung -] und kehrte am Abend über den Stadtpark
[Johann-Strauß-Denkmal im Stadtpark]
zum Karlsplatz zurück, um von dort wieder zum Jugendgästehaus zu fahren.
Am nächsten Tag, Donnerstag (10. Oktober)[,] machten wir - d. i. meine Klasse - eine ganztägige Burgenlandrundfahrt, in der wir vormittags Burg Forchtenstein
[Rückblende:
Burg Forchtenstein um 1955]
besuchten, mittags in Eisenstadt rasteten, wo wir unseren Lunchbeutel verzehrten (den Inhalt natürlich)[,] nachdem wir uns das Haydn-Grab in der Bergkirche angesehen hatten. Nachmittags fuhren wir an den Neusiedler See, verfolgten dort die [bewachte] ungarische Grenze durch das Fernglas ans andere Ufer und fuhren weiter,
um Wein einzukaufen [ich erwarb statt dessen einen bunten Maiskolben als Souvenir für meine Eltern]. Um 18 Uhr waren wir wieder im Jugendgästehaus beim Abendessen und waren [auch] alle der Meinung, daß [ersetzt für „das"] das Programm großartig sei. Nach dem Abendessen machte ich mit 1/3 der Klasse einen Praterbummel mit einer Fahrt im Riesenrad,
[Rückblende:
Foto des Riesenrades vom August 1962 (Dahlhaus-Sammlung)]
das um diese Zeit leer war, und [wir] machten uns dort breit, um möglichst viel zu sehen. Gegen 10.30 [= 22.30] Uhr waren wir wieder im Jugendgästehaus, wo wir uns schon auf den nächsten Tag freuten. [gestrichen: „Wir waren mit[t]lerweile längst pleite, was unsere" Freude allerdings kaum trübte. (Auf dem Prater-Gelände habe ich damals viel Geld beim Spiel mit elektrischen Automaten - z. B.: Abwehr sowjetischer Panzer - vergeudet.)]
Das Programm des nächsten Tages [11. Oktober] begann mit einem geführten Stadtbummel, in dem [wir] zwischen modernen Wohnhäusern, leise[,] um niemanden zu stören, nach alten römischen Denkmälern und nach Zaunresten des alten Stefansfriedhofes zu „suchen" [hatten]. Der Kontrast zwischen alt [hier:
Schild in der Nähe vom Griechenbeisl]
und neu ist in Wien sehr groß. Der Stephansdom
war fast gänzlich von einer riesigen U-Bahn-Baustelle umgeben, der „Stock im Eisen" vor den neugierigen Blicken der Touristen geschützt [gestrichen: „(damit sie ihn in den engen Umleitungen nicht abhobelten)"] vor der Hofburg und neben den Fiakern
am Erzherzog-Karl-Denkmal standen moderne Reisebusse, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Nach (und vor) dem Mittagessen im Bärenkeller, wo ich ein Stück Sachertorte und bald ein Kilo Sahne von Klassenkameraden genoss, ging ich den Ring entlang, um mir die Sehenswürdigkeiten anzusehen.
[Parlament
Michaelertrakt der Hofburg
Zu den eigenen Fotos gehören das von einem Altar der Michaelerkirche und von einem Grabdenkmal in der Kapuzinergruft (die letzten beiden Fotos überlagerten sich bedauerlicherweise auf dem Film - die letzten drei wurden übrigens laut Dokumentation erst am 12. nachmittags gemacht).] Nach dem Abendessen im „Gösser-Bräu" besuchten wir um 19.30 Uhr das Burgtheater [laut Taschenkalender wurde für den 9. ein Besuch im „Burgtheater" gestrichen, für den 11. war ein solcher im „Volkstheater" vorgesehen (möglicherweise gab es Termin-Probleme - Herr Gerber war damals Brecht-Fan)] und sahen uns das Schauspiel „Mutter Courage und ihre Kinder" von Berthold Brecht an, das viel Anklang fand.
Am letzten Tag [12. Oktober], vor unserer Abreise, fiel der Besuch der Porzellanmanufaktur „Augarten" aus[,] und das Mittagessen im Spezialitäten-Restaurant „Palty-Keller", „Rehgoulasch", schmeckte kaum jemanden, aber abends[,] während der Wienerwaldrundfahrt mit Heurigenbesuch, sangen die meisten Schüler wieder vergnügt:
Herr Gerber sitzt im Hofbräuhaus,
und trinkt die ganze Kneipe aus;
eins, zwoa, suffa!
Herr Tröster, der sitzt neben ihm
und zahlt die ganze Zeche ihm;
eins, zwoa, suffa!
Dann geht's zurück zum Jugendheim,
doch der Pförtner läßt sie nicht herein;
eins, zwoa, suffa!
Da legen sie sich auf 'ne Bank,
und fangen [bald] zu schnarchen an;
eins, zwoa, suffa!
Am nächsten Morgen... [aufgewacht,
wird des gleich nochmal gemacht:
eins, zwoa, suffa!]
Leider weiß ich den ganzen Text nicht mehr, das Lied hörte sich aber ziemlich lustig an.
Am Sonntag, den 13. Oktober, mußten wir von Wien Abschied nehmen. Um 7 Uhr aßen wir unser berühmtes Frühstück und fuhren gegen 7.30 Uhr zum Westbahnhof. Von dort ging es [ersetzt für „fuhren wir"] mit dem D 220 nach Frankfurt, wo wir laut Fahrplan um 17.53 Uhr ankamen und um 18.09 Uhr mit dem D 710 weiter fuhren und [schließlich] um 21.24 am Hagener Hbf ankamen. Ich und die oben genannten Mitschüler hatten [für] uns wieder ein eigenes Abteil frei gehalten und fast die ganze Zeit hindurch Karten gespielt, so daß ich, hätte ich nicht die genaue Reisezeit gewußt, gemeint hätte, keine 2 Stunden gefahren zu sein [ersetzt für „haben"]. Ich empfand die Wien-Reise als ein einmaliges Erlebnis und würde sie gerne wiederholen.
[...]
Immer wenn ich mich an die Wienreise erinnere, muß ich an Beate denken. [...] Ich mag Wien bald so sehr wie Beate. In Wien leben viele nette Leute[,] und es ist [gleichfalls] sehenswert. Falls ich Beate heiraten sollte, werden wir die Flitterwochen in Wien verbringen. (Wenn sie einverstanden ist).
Nachbemerkung vom 11. August 2013 (fast vierzig Jahre später!)
Wien und Umgebung habe ich im September 1983 erneut besuchen können, wofür ich dem Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster dankbar bin. Darüber hinaus danke ich nicht minder den Organisatoren und Finanziers der Klassenfahrt vom Oktober 1974!
MEDIA
Filme
Farbiger Schmalfilm von Wolfgang Gegusch bei YouTube.com über Wien anno 1967 - als Ergänzung und zeitnahe Vergleichsoption ideal! -:
Ein besonderes Schmankerl: Das farbige YouTube-Video „Vintage Vienna: Wien 1951" (Stummfilm, erstellt von Idar Johannessen):
Film über den Prater aus dem 1970er Jahrzehnt:
Ohne dem geht's nit: Das Prater-Riesenrad, gesehen von farbschlacht gewissermaßen im Nacht-Modus:
Literatur
Schloß Belvedere
Hans Aurenhammer und Gertrude Aurenhammer, Das Belvedere in Wien. Bauwerk, Menschen, Geschichte, Wien und München 1971.